Wenn es um die Bewertung von Wahlergebnissen geht, zählt nicht nur das amtliche (allemal vorläufige) Endergebnis, sondern ebenso der von den einzelnen Parteien tiefempfundene, d. h. gefühlte Erfolg oder Misserfolg. Das gefühlte Ergebnis wird stets von Repräsentanten der Parteien verkündet, aber leider immer wieder von Journalisten mit dem amtlichen Zahlenwerk konfrontiert. Das erklärt die oft angespannte Stimmung vor der Kamera und in der Generalsekretärsrunde. Dennoch ist es nicht das amtliche, sondern das gefühlte Ergebnis, welches Zufriedenheitslevel, Machtanspruch und Selbstbetrugsrisiko der Parteioberen bestimmt.
Der erste Blick auf das amtliche Wahlergebnis 2018 gilt dem relativen Zugewinn gegenüber dem Ergebnis von 2013. Klarer Sieger sind hier die Grünen mit +103 % Selbstübertrumpfung. Mit Abstand folgen die FDP (+55 %), die Linkspartei (+52 %) und die Freien Wähler (+29 %).
Doch der zweite Blick ist der entscheidende. Indem die CSU ziemlich genau das von ihr erwartete Ergebnis einfuhr, konnte sich MP Söder mit minus 22 % Wählerstimmenanteil nicht ohne Stolz als Wahlsieger präsentieren. Gewiss habe man das Ziel der absoluten Mehrheit verfehlt, aber allen Grund, mit einem fröhlichen Weiter-So die nächste Regierung zu bilden. Ganz offensichtlich übersteigt das gefühlte Ergebnis recht deutlich die amtlichen 37,2 % und kann ohne Übertreibung auf knapp unter 50 % taxiert werden. Die CSU siegte also mit gefühlten 49,9 %. Glückwunsch!
Ganz anders die SPD. Obwohl es gelang, mit 9,7 % noch in Rufnähe der Zweistelligkeit abzuschließen, zeigten sich die VorsitzendInnen Kohnen und Nahles tief zerknirscht. Ihr gefühlter Misserfolg hat mit 5,1 % gerade noch die Fünfprozenthürde geschafft. Beim nächsten Mal sei man auf einen weiteren Abstieg vorbereitet, so Natascha Kohnen, indem man den wenigen verbliebenen Sympathisanten durch „noch mehr Geschlossenheit“ die Stirn bieten werde. Na dann, alles Gute!
Unbestrittener Wahlgewinner sind die Grünen. In ungewohnter Bescheidenheit verzichtete der neue Vorsitzende Habeck auf das ansonsten fällige Eigenlob und verblüffte mit wohlmeinenden Ratschlägen an die kommende CSU-plus-X-Regierung. Das gründlich durchgeschüttelte Parteiensystem signalisiere den Veränderungswillen der Wählerschaft – eine Auffassung, der sich die CSU-Oberen nicht spontan anschließen mochten. Doch +103 % Zugewinn rechtfertigen locker das gefühlte Ergebnis von 35 %. Weiter so!
Wie alle außer der SPD haben auch die Freien Wähler Grund zur Freude. Ohne viel eigenes Zutun kamen sie im Windschatten des CSU-Abstiegs auf amtliche 11,6 %, was angesichts der Chance auf Regierungsbeteiligung gefühlt glatt dem Doppelten, also 23 % entspricht. Guten Rutsch in die Staatskanzlei!
Die AfD zeigte sich von den amtlichen 10,2 % nicht zu Begeisterungsstürmen hingerissen, da sie von ihrer Performanz in den neuen Ländern besseres gewohnt ist. Um nicht in Traurigkeit zu verfallen – immerhin glauben ihre Wähler, das „Volk“ zu repräsentieren – schlug man einfach den Stimmenanteil der Freien Wähler hinzu und kam somit auf gefühlte 25 %. Ganz schön pfiffig.
Den subjektiv allergrößten Erfolg erzielte die FDP, deren Selbstlobperformanz jener von CSU und Alt-Grünen traditionell überlegen ist. Ihre amtlichen 5,1 % entsprechen ohne Übertreibung rund dem Fünffachen, also gefühlsechten 25 %. Großes Kino!
Bleibt nur noch die Linkspartei zu erwähnen, die ihr Ergebnis von 2013 (2,1 %) aus dem Stand um +52 % auf beachtliche 3,2 % steigern konnte. Das entspricht nicht ganz der vom Vorsitzenden Riexinger vorschnell auf ARD verkündeten Verdoppelung, aber dokumentiert eine parteiinterne Erfolgsbewertung von ebenfalls gefühlt 25 %. Der erste Schritt auf dem Weg zur sozialistischen Volksrepublik Bayern ist geschafft!
Aufmerksame Leser und Leserinnen mögen angesichts dieser Zahlen stutzen, weil sich die gefühlten Prozentsätze zu weitaus mehr als den üblichen 100 % addieren. Sie haben recht: unter Berücksichtigung von 5 %, die auf Sonstige entfallen, beträgt die Summe aller gefühlten Ergebnisse sage und schreibe 173 %. Folglich bedarf es eines weiteren Bewertungsschritts, nämlich der Umrechnung in gefühlsgewichtete Prozentzahlen, die zusammen genommen wieder 100 % ergeben. Erst diese, in einem letzten Schritt errechneten Werte repräsentieren das gefühlsechte politische Gewicht der Parteien, das diese in im Wettbewerb um Macht und Selbstgefühl zum Einsatz zu bringen pflegen. Das Gesamtergebnis lautet deshalb wie folgt (in der Reihenfolge amtlich, gefühlt, gefühlsgewichtet):
CSU 37,2 – 49,9 – 29 %
SPD 9,7 – 5,1 – 3,0 %
Grüne 17,5 – 35 – 20 %
FrWä 11,6 – 23 – 13 %
AfD 10,2 – 25 – 14,5 %
FDP 5,1 – 25 – 14,5 %
Linke 3,2 – 5,0 – 3,0 %
Sonst. 5,5 – 5,0 – 3,0 %
addiert 100 – 173 – 100 %
In memoriam James G. March
1928–2018
https://www.egosnet.org/egos/about_egos/jim-march_obituary-notice
Très sophistiqué. Excellenter Beitrag! Das ist Politikwissenschaft! Da soll noch mal einer sagen, das Politologen nicht mehr wissen als Journalisten, die ueber Politik berichten.