Die Reaktionen auf den Wahlerfolg der AfD können nicht überzeugen. Die einen (v.a. AfD und CSU) behaupten, die Wähler hätten gegen unzumutbare Flüchtlingszahlen protestiert. Sie hätten auf die „gefühlte“ Überflutung von Mecklenburg-Vorpommern mit mindestens 500.000 Geflüchteten reagiert, weil scheinbar jeder vierte Einwohner ein Fremder mit anderer Sprache, Religion, Hautfarbe, Barttracht und Verhaltensweisen sei – ein imaginäres Horrorszenario. Tatsächlich leben in MV aber nur etwa 8.000 Flüchtlinge. Wer also dieser krassen Fehlwahrnehmung aufsitzt, würde sich kaum von einer verringerten Flüchtlingszahl beruhigen lassen.
Die andere Seite, namentlich SPD, Linkspartei und Grüne, sehen die Protestwähler von sozialen Ängsten geschüttelt: Sie fühlten sich „abgehängt“, von Hartz 4 und Leiharbeit gebeutelt und durch skandalös niedrige Ostrenten gedemütigt. Die Aufzählung derartiger Missstände ist beliebig verlängerbar und legt sozialpolitische Kompensation nahe. Zweifelhaft ist nur, ob soziale Wohltaten auf Dankbarkeit stoßen würden. Beurteilen doch immerhin rund 80 % der AfD-Wähler ihre Lebenslage als gut oder sehr gut. Die alternative Erklärung, dass man sich besonders um die schlechter gestellten Mitbürger, womöglich gar um Geflüchtete, sorgen würde, ist nicht plausibel.
Angesichts dieser unbestrittenen Befunde ist klar: Etwas weniger Flüchtlinge oder etwas mehr Einkommen würden die Motivlage der Wähler nicht verändern. Entsprechende Politikvorschläge, wie sie die öffentlichen Debatten dominieren, zielen vor allem auf Wähler, die noch nicht zur AfD abgewandert sind; restriktive Flüchtlingspolitik bzw. höhere Sozialausgaben sollen die eigene Klientel bei der Stange halten. Man hofft, die Original-AfD mit einer Prise AfD-light auszubremsen.
Aber was treibt die um, die schon in die Wähler- und Mitgliedschaft der AfD gefunden haben? Da es nicht in erster Linie Flüchtlingszahlen und soziales Leid ist, kommen als mögliche Erklärungen Politikverdrossenheit, Globalisierungsfrust, Zukunftsangst und Statusunsicherheit in Frage. Das sind allerdings eher diffuse Phänomene, die mindestens so sehr zu politischer Enthaltsamkeit wie zum aktiven Handeln motivieren. Es muss noch ein weiterer Faktor beteiligt sein, der wohletablierte „Normalbürger“ umtreibt, den Institutionen und der politischen Kultur des Landes die Zustimmung aufzukündigen.
Einen deutlichen Hinweis gab der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen, als er auf dem Stuttgarter Parteitag vom „links-rot-grün versifften 68er Deutschland“ sprach. Es war eine unmissverständliche Absage an die plurale, liberal-demokratische, weltoffene, Minderheiten respektierende und ihrer Vergangenheit bewusste Gesellschaft, die in Deutschland erst relativ spät, erst vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, entstanden ist.
Dass dieses anti-liberale Gefühlssyndrom etwas stärker in Ost‑ als in Westdeutschland auftritt, verweist auf Besonderheiten im Erfahrungsschatz ehemaliger DDR-Bürger. Nicht anders als die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik hatte die DDR-Gesellschaft Elemente des vormodernen, rassistisch geprägten Nationalchauvinismus bewahrt, der aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stammt und im Nationalsozialismus zur Staatsideologie geworden war. Er drückte sich in Verachtung für nahezu alles Fremde, übersteigertem Nationalstolz und Indifferenz gegenüber fremdem Leid aus. Während die politische Kultur Westdeutschlands mehrere Phasen moralischer Selbstaufklärung (an den Themen Holocaust, Naziverbrechen, Zwangsarbeit) durchlief, blieb der deutschtümelnde Chauvinismus der DDR-Gesellschaft bis zum Auftreten der oppositionellen Bürgerbewegungen nahezu unwidersprochen.
In der anfangs nur gegen die EU-Integration und Euro gegründeten AfD konnten die anti-liberalen, nationalchauvinistischen Motive aus Ost und West eine politische Heimat finden. Seehofers Diagnose, dass der Aufstieg der AfD vor allem als „Systemkritik“ zu verstehen ist, scheint korrekt. Es bedeutet, dass sich die radikalen Deutschtümler weder durch Entspannung beim Flüchtlingsthema noch durch sozialpolitische Geschenke nachhaltig zufrieden stellen lassen. Was die Führungspersonen der AfD erklärtermaßen anstreben, ist eine weitgehende Einflussnahme auf die politische Tagesordnung und – im Weiteren – auf die politische Kultur des Landes.
Alle Schritte in Richtung auf eine restriktive Flüchtlingspolitik sowie sozialpolitische Zugeständnisse an die „Bio-Deutschen“ wird die AfD als ihre Erfolge verbuchen. Gleichwohl ist es unwahrscheinlich, dass sie unterbleiben. Denn die Anti-AfD-Surrogat-Politiken entsprechen ja manifesten Forderungen aus allen „demokratischen“ Parteien. Folglich werden sie das Wachstum des anti-liberalen Lagers nicht ausbremsen, sondern es eher beschleunigen. So bleibt als letztes Mittel der Zähmung des ungeliebten, aber einflussreichen Gegners wohl nur das Angebot der Regierungsbeteiligung. Die AfD „in die Verantwortung“ zu nehmen, bedeutet aber nicht nur, einige begrenzte Zugeständnisse zu machen. Es schließt auch die offiziöse Tolerierung ihres speziellen politisch-kulturellen Profils ein.
Doch selbst, wenn die erste Strophe des Deutschlandliedes offiziellen Status erhielte und vielfältige neue Formen von Ausländerdiskriminierung (nach dem Vorbild der „Ausländermaut“) praktiziert würden, wäre eine restlose Befriedung der Deutschtümler unmöglich. Sie würden sich weiterhin durch Globalisierung, Genfer Flüchtlingskonvention, EU-Mitgliedschaft, NATO-Integration und zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen herausgefordert fühlen. Die Ära gesamtgesellschaftlich geteilter Grundwerte wäre am Ende; ein Anschein von Harmonie wäre nur um den Preis liberaler Toleranz des Antiliberalismus möglich.
In diesem worst case-Szenario hätte Deutschland seine beste Zeit hinter sich. Womöglich dürfte man erst dann auf eine Zeit schamvoller Selbstkorrektur der Gesellschaft hoffen, wenn der von den Tümeldeutschen angerichtete Kulturschaden unübersehbar geworden ist.