EM 2016: mehr Unsicherheit, mehr Profit

Was Fußball so über alle Maßen attraktiv macht, ist bekanntlich die einmalige Melange aus genuiner Unsicherheit, autonomer Aktion und maskuliner Identifikation. Unsicher bleiben Spielverlauf und ‑ergebnis bis zum Abpfiff. Keine noch so clevere Aufstellung und Strategie entscheiden über die tatsächlichen Aktionen der Spieler, die deshalb soviel emotional geladene Aufmerksamkeit genießen. Und kein anderes Kollektiv (und schon gar nicht eine Partei) vermag so stark zum Bekenntnis als Anhänger, Fan oder Ultra zu motivieren wie ein überregional aktiver Ballspielverein. Es würde wohl kaum Proteste auslösen, wenn alle Männer ab 18 ihre Vereinspräferenz im Ausweis dokumentieren müssten (was z.B. Rasterfahndungen wesentlich vereinfachen würde).

Diese EM stellt nun aber alles in den Schatten, was die drei Faktoren bisher bewirkten. Zunächst bleibt unsicher, ob die französischen Gewerkschaften die unbehinderte Austragung bzw. den Besuch aller Spiele zulassen werden. Und wenn ja, kommen die nicht minder machohaft agierenden Terroristen ins Spiel. Welche/s Spiel/e werden sie zu attackieren versuchen? Werden wir ihre Attacken womöglich am Bildschirm live beobachten können – oder bleiben wir auf die redundanten Vermutungen uninformierter Journalisten angewiesen? Das würde den Kitzel der mehrfachen Unsicherheit stark vermindern.

Von Unsicherheit nicht betroffen bleibt mit Sicherheit die „extraktive“ Funktion der Fußballindustrie. Da müsste schon das ganze restliche Turnier vor dem Viertelfinale abgesagt werden, damit der Fluss der Milliarden in die Kassen von Verbänden, Vereinen und AGs ein bisschen ins Stocken gerät. Die Wut der Fans wird die Einkünfte der UEFA-Funktionäre und der vielen spielfähigen Multimillionäre kaum in Mitleidenschaft ziehen. Denn das hochprofitable Extraktionssystem Fußball ist gegen Skandale praktisch immun: Je mehr Skandale, um so mehr Publizität und animierte Zuschauer.

So können wir also den alle Bedeutsamkeiten dieser Welt überstrahlenden Ballspielen der europäischen Jungmillionäre gelassen entgegensehen.

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Über hwiesenthal

Soziologe und Politikwissenschaftler, seit 2003 im Ruhestand, wohnt in Berlin.
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