Jede Menge Gewinner …

Die kalten Zahlen des Wahlergebnisses spiegeln gottseidank nicht die ganze Wahrheit des Wahlsonntags wider. Neben dem offiziellen gibt es bekanntlich das gefühlte Wahlergebnis. Das ist das, für das sich die Amtsträger mit ehrlicher Emphase bei „ihren“ Wählern und Wahlhelfern bedanken. Haben die doch durch ihren „großartigen“ Einsatz für ein Ergebnis gesorgt, das man sich immer noch ein bisschen schlimmer vorstellen könnte.

Fangen wir mit dem selbsterklärten Super-Wahlsieger des 22.09. an, der Partei „Die Linke“. Die hat im offiziellen Ergebnis zwar 3,3 Prozentpunkte gegenüber 2009 verloren und das Wahlziel „10 Prozent plus X“ verfehlt, aber dennoch einen gefühlten Wahlsieg in der Größenordnung von mindestens 15 Prozent eingefahren. Herzlichen Glückwunsch!

Ebenso großartig fiel der gefühlte Erfolg der Grünen aus. Noch am Sonntag Abend konnten sie sich bei Facebook und sonstwo über ihren phänomenalen Wahlkampfeinsatz begeistern („Wir drehen das!“) und sich des unglaublichen Zuspruchs der Bevölkerung rühmen. Allein die Proklamation des Veggiedays schien einen Popularitätsbonus von mindestens 1,5 Prozentpunkten gebracht zu haben. Die wohldosierte Einkommensteuererhöhung und eine großzügige Entlastung bei den Stromkosten (ganze 50 Euro pro Jahr und Haushalt!) sicherten den Grünen schließlich einen beträchtlichen Stimmenzuwachs: von 8,4 Prozent real auf solide gefühlte 16 Prozent. Mit diesem Erfolg lässt sich Gysies großspuriges Eigenlob souverän vom Tisch wischen. Jetzt kommt es nur noch darauf an, die Urheber des schönen Erfolgs in ihren Spitzenämtern zu bestätigen und den miesepetrigen Warnern aus BaWü ordentlich eins auf den Deckel zu geben. Gerechtigkeit muss sein!

Ein weiteres Wunder an Wohlgefühl demonstriert die AfD. Zwar ist sie nach Auffassung des Bundeswahlleiters – ebenso wie die Piratenpartei – an der Fünfprozentschranke gescheitert, was ja nicht automatisch eine Erfolgsgarantie für den nächsten Anlauf bedeutet. Aber die Bereitschaft, sich für den Beinahesieg zu feiern, ist ungebrochen. Jubelschreie und Trinkfreude dokumentieren einen gefühlten Gewinn von mindestens zwölf Prozent der Wählerstimmen. Da kann man nur staunen und rufen: „Na gut, wenn ihr das so seht…“.

Nach den drei unbestrittenen Siegern müssen die offenkundigen Verlierer der Bundestagswahl erwähnt werden. Da ist zunächst das Ergebnis der FDP zu nennen, die Jörg Schönenborn in der ARD als garantiert „kompetenzfreie Zone“ im deutschen Parteiensystem identifizierte. Die stolze Verlustquote von 9,8 Prozentpunkten und fünf leibhaftigen Bundesministern läßt allerdings nur einen minimalen Zuschlag an gefühlter Erfolgssymbolik zu. Also allenfalls plus 0,19 Prozentpunkte. Das reicht mühelos aus, um der FDP zu einem Stimmenanteil zu gratulieren, der haargenau ihrer wahren gesellschaftlichen Bedeutung entspricht. Gute Erholung, aber bloß keine Eile, ihr Lieben.

Tja, da bleibt nur noch die Union zu würdigen, auch wenn sie wieder einmal die absolute Mehrheit verpasst hat. Das grandiose Scheitern von CDU/CSU war etlichen Anrufern im Deutschlandfunk Anlass, den wahren Wählerwillen in einer Addition der SPD‑, Grünen- und Links-Stimmen zu erkennen, wobei man besonders von den gefühlten Stimmenanteilen inspiriert war. Die Unionschristen blieben davon unberührt und beharrten auf der absurden These, dass ihre realen 41,5 Prozent ein deutlicheres Erfolgssymbol seien als 25,7 bzw. 8,6 und 8,4 Prozent. Gefeiert wurde gar, als handelte es sich um glatte 42 Prozent. Die Bildungskatastrophe ist halt nicht mehr aufzuhalten.

Lässt man die Stimmenanteile beiseite, die auf Piraten und Sonstige entfallen, so ergibt die Gesamtaddition der realen Stimmenanteile nur 84,2 Prozent. Dagegen belaufen sich die wesentlich gewichtigeren „gefühlten“ Stimmenanteile auf 89,99 Prozent. Das muss bei der Regierungsbildung berücksichtigt werden!

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Über hwiesenthal

Soziologe und Politikwissenschaftler, seit 2003 im Ruhestand, wohnt in Berlin.
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2 Antworten zu Jede Menge Gewinner …

  1. angoy@web.de schreibt:

    ist ja witzig, aber den grünen hast du wohl nicht zugehört: Katrin u. Trittin sprachen von Anfang an von Verlust. Mehr als mir anfangs nötig und sinnvoll erschien in Anbetracht der einen verbliebenen zumindest rechnerischen Option.

    Auch bei der AfD konnte ich keine Fehler entdecken. Aus dem Stand ein solches Ergebnis ist bemerkenswert. Und der Spitzenkandidat hat recht, dass sie bei der Europawahl erheblich zulegen können, zum einen, weil es da gerne mehr Protestwahl gibt und zum anderen, weil es noch mehr ihr Thema ist.

    Den CDU-Absatz verstehe ich gar nicht richtig.

    Von etlichen Einzelwitzen (z.B. BaWü) abgesehen, geht es mir mit dem Beitrag ein ganz klein wenig so wie mit den linken Spalten auf der MAZ-Titelseite 😦 . Aber ich habe ja auch noch nix mitgekriegt. Außer dass ich mich gerade in eine Reihe anderer Rücktritte stelle …

    lgd

  2. martin.birke@koeln.de schreibt:

    Lieber Dieter,

    unten anhängend ein eher skurriler Kommentar von einem Dir bekannten Fachkollegen zum denkwürdigen Wahlausgang.

    Meine Antwort zu Deinen Vergangenheitsfragen hier nur in Stichworten – sozusagen als vorwegnehmendes abstract zum Gespräch an Eurem Kamin:

    Zu meiner Politbiografie: Nach meinem KBW-Abenteuer bin ich ganz bewusst nie mehr parteigebunden gewesen. Zu den GRÜNEN bestand programmatisch und auch personell eine gewisse „organische Nähe“. Die war aber immer auch gepaart mit analytischer Distanz, die besonders dann bei mir virulent wurde, wenn es voluntaristisch, ideologisch oder normativ hoch herging. Dies resultiert(e) dann vielleicht doch aus dem Wiedereintreten und Zuhause-Sein in die/der (Organisations-)Soziologie.

    Der Professionsblick prägt auch aktuell meine Haltung zu den GRÜNEN, die auf allen Ebene ein Revirement brauchen – programmatisch, personell und auch kulturell; insbesondere der selbstgerechte, moralische Zug gehört hoffentlich ab gestern der Vergangenheit an. Gleichzeitig finde ich das moralische Bashing in den letzten Wahlkampftagen ziemlich scheinheilig und abstossend (die von mir journalistisch geschätzte FAZ suggerierte gar eine „Kernschmelze“).

    Zur GRÜNEN-Ursuppe: ​ Die K-Gruppen machten mit ihrer stückweisen Abkehr von der „Diktatur des Proletariats“ nicht nur eine je unterschiedlich intensive „Demokratie-Läuterung“​ durch. Sie erkannten auch, dass die „neuen sozialen Bewegungen“ und die GRÜNEN als ihr Schmelztiegel theoretisch-programmatisch, aber auch organisatorisch, nicht zuletzt auch berufsbiografisch neue Chancen boten. Selbige wurden dann von den Gruppen und Grüppchen und ihren Matadoren unterschiedlich schnell beim Schopfe gepackt (Trittin war eher von der schnellen Sorte; „mein“ Verein hielt sich eher zurück und gab stattdessen eine Theoriezeitung heraus).

    Parteiorganisatorich hat das den GRÜNEN seit Mitte der 80er sehr genützt. Personell sicher auch: aus dem KBW reüssierten über die weitläufigen Pfade der sogenannten Realo-Fraktion der jetzige BaWÜ-Ministerpräsident, der Stuttgarter OB, der Chef der Heinrich-Böll-Stiftung etc.. Mit diesem Politiktypus gehe ich auch noch immer konform – insbesondere weil er reflexiv geerdet und analytisch-theoretisch interessiert ist. Leider haben es aber auch König Joschka und seine Kreise versäumt, diese wichtige Modernisierungsseite bei den GRÜNEN zu etablieren. Die anstehende grüne Revitalisierung, die intern schon lange angestrebt wird, ist also spannend (nicht zuletzt Helmuth Wiesenthal, der sich jetzt allerdings hinter zu viel Ironie versteckt, hat sich an dieser „Front“ lang engagiert).

    Mehr dazu aber demnächst! Denn jetzt hab ich noch ne Präsentation für ein mögliches Projekt mit der Kölner IHK (!!!) zu SmartCity Cologne: Times are changing!?

    Herzlich

    Martin

    Dr. Martin Birke Goltstein Str. 73 50968 KÖLN 0221-380005

    martin.birke@koeln.de

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