Das GLASS-Ultimatum: Eine realistische Fiktion, 5. Teil

(Schluss:) Die futuristische Erzählung „The Ultimatum“ ist eine Art Gedankenexperiment zur Zukunft der globalen Klimapolitik. Sie macht auf etwas aufmerksam, was unter bestimmten Bedingungen passieren könnte. Das muss nicht tatsächlich passieren. Die experimentelle Erzählung gewinnt dadurch Plausibilität und eine gewisse Überzeugungskraft, dass sie latentes Wissen bewusst macht, auf sinnfällige Weise miteinander verknüpft und durch Bezüge zur heutigen Wirklichkeit verifiziert. Was sie nicht leistet, ist die Vermittlung von prinzipiell neuen Einsichten oder gar gültigen Lehren.

Die Erzählung startet mit der Schilderung einer Lage, die in etwa der Wahrnehmung der Klimaproblematik zur Zeit der Kopenhagen-Konferenz (2009) entspricht. Dass engagierte Klimapolitiker in den USA des Jahres 2032 den Eindruck gewinnen, das Thema gehöre jetzt endlich ganz oben auf die politische Tagesordnung, verdankt sich einer neuen, brisanten  Studie. Ihr zufolge ist das Zeitfenster, in dem sich noch etwas Entscheidendes bewirken lässt, auf wenige Jahre geschrumpft. Interessanterweise bleibt diese Studie zunächst geheim. Der von ihr ausgehende Handlungsdruck entsteht nicht in der Öffentlichkeit, sondern bei der politischen Führung. Und diese weiß, wie schwierig es ist, die notwendigen, aber schmerzhaften Maßnahmen dem Wahlvolk zu vermitteln – vor allem dann, wenn der Erfolg wegen der unsicheren Kooperationsbereitschaft anderer Länder ungesichert ist. Unterstellt ist also eine „rationale“ Wählerschaft, die nicht bereit ist, Opfer mit ungewissem Nutzen in Kauf zu nehmen. Die in der Umweltbewegung vorherrschende Ansicht, einseitige Vorleistungen würden andere Länder motivieren sich anzuschließen, taucht in diesem Szenario nicht auf.

An diese Ausgangslage schließt sich eine Kette gradueller, je für sich scheinbar plausibler Entscheidungen an, die schließlich in einen bilateralen Atomkrieg münden. Die Logik der Eskalation ist einleuchtend und durch Forschungen zu „escalating commitments“ in Organisationen und Entscheidungsgremien  hinreichend bestätigt. Voraussetzung sind ein hohes Maß von Engagement und Zielorientierung: Die Akteure glauben, ein über jeden Zweifel erhabenes Ziel, eine Mission, zu haben. Darüberhinaus: die scheinbar rationale Abwägung der Mittel auch in dem Sinn, dass es für ein hehres Ziel lohnt, schmerzhafte Opfer zu bringen und anderen abzuverlangen. Und schließlich etwas, was die US-Regierung, so wie sie vom Autor geschildert wird, zu berücksichtigen vergaß: nämlich dass man in internationalen Beziehungen mit einer Inkongruenz der Ziele rechnen muss, die die Beteiligten verfolgen.

War für die USA nichts wichtiger als die Annahme ihres „Carbon Plan“, so spielte dieser für die Gegenseite nur eine untergeordnete Rolle. Für die chinesische Regierung hatten die nationale Einheit mit Taiwan und die Sicherung ihrer Machtposition größere Bedeutung als die Vermeidung eines begrenzten wirtschaftlichen Schadens mit einigen Millionen Toten. Man muss es noch schärfer fassen: Die Tatsache, dass dem anderen Akteur (hier: den USA) sein vorrangiges Ziel (hier: das Klimaabkommen) so ungemein wichtig war, stellte für den Gegenspieler (hier: China) eine ungewöhnlich günstige Gelegenheit dar, ein ganz anderes Projekt auf den Weg zu bringen und schließlich durchzusetzen. Mit anderen Worten: Das eindimensionale Zielsystem machte die „USA“ erpressbar.

Das könnte eine nicht untypische Konfliktsituation in solchen Fällen sein, in denen sich ein demokratisches System mit einer von Wahlergebnissen abhängigen Regierung und einem klaren „Wählerauftrag“, auf der einen Seite, und ein autokratisches System ohne internen Legitimations- und Konkurrenzdruckauf, auf der anderen Seite , gegenüber stehen. Autokraten halten sich häufiger als Demokraten für innenpolitisch unangreifbar und glauben, über „ihre“ Bevölkerung nach Gutdünken verfügen zu können.

Die Schwelle zum Atomkrieg wird in der Erzählung vom autokratischen System überschritten. Ob das plausibel ist, ist schwer zu beurteilen.  Möglich, dass nationales Pathos und die Vorstellung, es ginge  um die Frage, wer die Führungsmacht in der Welt sein wird, dazu verleiten können. Möglich auch, dass das Atomwaffen-Tabu zuvor schon auf niedrigerer Schwelle gebrochen sein muss, damit ein massiver „Overkill“ möglich wird. Plausibel ist jedenfalls die Brisanz, die im Zusammentreffen dieser zwei Momente liegt: einem unbedingten und opferbereiten Engagement auf der einen Seite, und einer ebenso strammen, aber gänzlich anderen Präferenzordnung auf der anderen. Ersteres ist eine stets begrüßenswerte Erfolgsbedingung für politische Innovation (die im Interesse des Erfolgs aber nicht unbedingt offen gelegt werden muss), letzteres ein durchaus vertrauter Sachverhalt in vielen internationalen Konflikten.

Das Gedankenexperiment von Matthew Glass erlaubt eine vorsichtige Schlussfolgerung. Sollte es in der Zukunft tatsächlich  ein weltweit wirksames Klimaabkommen geben, sind kriegerische Konflikte auf dem Wege dahin nicht auszuschließen. Vielmehr liegen sie – unter bestimmten Bedingungen –  in der Logik der Sache und der jeweiligen internationalen Situation. Etwas wahrscheinlicher ist es deshalb, dass die Welt ohne ein effektives globales Klimaabkommen wird auskommen müssen.

Aber vielleicht wird alles auch ganz anders. Zum Beispiel dadurch, dass sich in allen relevanten Ländern eine übereinstimmend positive, weil nutzeninspirierte Einschätzung der Entkarbonisierung durchsetzt, etwa wie sie (2010) im „Hartwell-Paper“ einer internationalen Wissenschaftlergruppe skizziert worden ist.

Über hwiesenthal

Soziologe und Politikwissenschaftler, seit 2003 im Ruhestand, wohnt in Berlin.
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