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Der wahre und der unwahre Faschismus – einige notwendige Unterscheidungsmerkmale

(Mein Post vom 24. April 2014, geringfügig aktualisiert.)

Präsident Putin warnt Europa und den Rest der Welt vor den Gefahren des ukrainischen „Faschismus“. Nun war der Alleinherrscher der Russischen Föderation sogar bereit die „faschistische“ Ukraine zu überfallen. Er will das Land mit militärischen Mitteln erobern, damit den Ukrainern von den Kiewer „Faschisten“ nicht noch mehr Leid zugefügt wird. Die Ukraine soll entmilitarisiert und entnazifiziert werden.

War es Putin 2014 noch gelungen, die bloße Existenz einer kleineren national-chauvinistischen Partei als hinreichenden Beleg des faschistischen Charakters der neuen demokratischen Regierung darzustellen, so ist es heute die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung gewünschte Mitgliedschaft in EU und NATO, welche den russischen Präsidenten zum Einschreiten nötigt. Man darf mit Fug und Recht annehmen, dass Putin nicht wirklich einen militärischen Angriff des „Westens“ (womöglich provoziert von Ukraine, Estland, Lettland oder Litauen) auf seinen Herrschaftsbereich befürchtet. Viel plausibler ist die Furcht des Präsidenten, dass die „Umzingelung“ Russlands durch friedliebende, liberale und rechtsstaatliche Demokratien die russische Bevölkerung nach Ähnlichem wird verlangen lassen. So begnügt er sich nicht mit der präventiven Unterwerfung eines unabhängigen, demokratischen (wenngleich keineswegs mängelfreien) Staates, sondern forciert auch die Politik der Informations- und Meinungsmanipulation mit Fakenews, Verbot eindeutiger Begriffe (wie Angriff, Invasion und Krieg) und die Abschaltung der letzten freien öffentlichen Medien im eigenen Land. In diesem Zusammenhang scheint es lohnend, die staatlichen Systeme der Ukraine und Russlands einmal hinsichtlich typischer Faschismusmerkmale abzuklopfen.

Falls man den westeuropäischen Medien und ihrer Berichterstattung über Staats- und Politikmerkmale der Ukraine und Russlands vertrauen kann, gewinnt man den Eindruck, dass die Putinsche Faschismusdiagnose viel weniger durch Informationen aus der Ukraine als vielmehr der intimen Kenntnis seines eigenen Herrschaftsapparates inspiriert ist. Denn ein Vergleich zeigt, dass die faschistoiden Merkmale und Tendenzen Russlands viel stärker ausgeprägt und für Bürger wie Dritte gefährlicher sind als alles, was man an Einschlägigem in der Ukraine beobachten kann.

Der folgende Schnelltest benutzt eine Reihe typischer Eigenschaften faschistischer Systeme, wie sie u.a. in der polithistorischen Forschung genannt sind. Die aufgeführten Eigenschaften betreffen im Wesentlichen nur die staatliche Ebene der verglichenen Länder.

Faschismus-MerkmaleUkraineRussland
Nationalistische Parteien vorhandenjaja
Nationalistische Partei(en) in der Regierungjaja
Nationalismus, militant auftretendneinja
Großmachtambitionenneinja
Autoritäres Führerprinzipneinja
Zentralisierte staatliche Steuerung?ja
Effektive Gewaltenteilung abwesend?ja
Identität von Staat und Parteinein?
Gleichgeschaltete Massenorganisationenneinja
Kontrolle der Massenmedienneinja
Dominanz staatlicher Propagandaneinja
Starke Stellung der Geheimpolizeineinja
Niedrige staatliche Tötungshemmungneinja
Abwertung liberaler Demokratieneinja
Bündnis mit demokrat. Staaten unerwünschtneinja
         Summarisches Ergebnis2 Ja, 11 Nein, 2 ?14 Ja, 0 Nein, 1 ?

Das Ergebnis dürfte zu denken geben. Zwar mögen die angewendeten Kriterien unvollständig oder nicht ausreichend präzise sein, doch scheinen die faschistoiden Elemente des ukrainischen Staates keineswegs stärker ausgeprägt als unter den Staaten des sogenannten Westens. Dem gegenüber ist die Russische Föderation in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit kaum mehr von einem vollendeten staatsprägenden Faschismus zu unterscheiden. Statt der Ukraine realen Faschismus anzudichten, ist es angebracht, sich der faschistischen Besonderheiten von Putins Russland zu vergewissern und den Befund ungeschönt zu kommunizieren. Es sind Putins eigene, dezidierte Aussagen und Handlungen, die Anlass zu genauerer Betrachtung und Risikoanalyse geben.

Berücksichtigt man auch den hohen Grad an Korruption (2017: Rangplatz 135 von 175) und den auf höheren Rängen der Regierung üblichen Diebstahl staatlichen Vermögens, ist es angemessen, das derzeitige System als Klepto-Faschismus zu bezeichnen.

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Wie die Grünen auf den abfallenden Pfad ihrer Beliebtheit gerieten

Ob die Grünen den Wettbewerb um das höchste Regierungsamt gewinnen können, scheint kaum noch von ihnen abzuhängen. Ihre Wettbewerber und professionelle Kandidaten-Crasher haben das Heft des Handelns an sich genommen. So ist es wohl nicht zu früh, dass sich Grüne und ihre Sympathisanten die Frage stellen, warum ihr erster aussichtsreicher Angriff auf die großkoalitionäre Machtbastion das Ziel zu verfehlen droht. Mindestens drei Verursachungskomplexe scheinen beteiligt zu sein.

An erster Stelle sind die Eigenbeiträge der grünen Kanzlerkandidatin zu nennen. Wenn man sich der frühen Version ihres Bildungsgangs erinnert und jener saloppen, aber sachlich absurden Überlegenheitsgeste gegenüber Robert Habeck – der Ex-Minister komme aus der Landwirtschaft, während sie im Völkerrecht verwurzelt sei –, entdeckt man Momente von Eitelkeit und eine Neigung zur Selbststilisierung, wie sie oft aus dem Bewusstsein eigener Schwächen resultiert. Baerbocks rasanter Studienabschluss an der LSE (nur ein Jahr nach dem Vordiplom) hat sie vor den anstrengenden Lernerfahrungen bewahrt, welche die Fach- und Stilkritik unzähliger Seminararbeiten im Hauptstudium vermittelt. Mit einem solideren akademischen Erfahrungshintergrund wäre sie kaum versucht gewesen, ihren Bildungsstatus aufzuhübschen, und hätte wohl Ghostwriter und Lektoren anhalten können, alle denkbaren Plagiatsverdachtsfälle auszumerzen. So aber sind der Kandidatin ihre hohe Fachkompetenz, Engagement- und Kommunikationsfähigkeit zur Achillesferse geworden. Ihr Beraterumfeld fühlte sich jedenfalls nicht ermutigt, sie auf die naheliegenden Stolperfallen im seit langem härtesten Wahlkampf vorzubereiten. Sie wusste es nicht besser. Und die, die es besser wussten, ließen sie im Dunkeln.

Damit ist der zweite Ursachenkomplex bei der Erklärung des Attraktivitätsverlustes angesprochen. Zweifellos gibt es bei den Grünen eine Reihe von Professionals, die 2020 die US-Demokraten bei ihrer Personalselektion und insbesondere dem Screening der Kandidaten für die Vizepräsidentschaft beobachteten. Warum waren die grünen Spitzenpoliker*innen, der Bundesvorstand und vor allem der Bundesgeschäftsführer nicht im Stande, der Kandidatin ein zum umfassenden Screening berechtigtes Beraterteam zur Seite zu stellen? Waren sie womöglich durch Gleichgültigkeit, Kooperationsunwillen oder Konkurrenzneid gehindert, der immer wieder beschworenen Härte der kommenden Auseinandersetzung Rechnung zu tragen?

Mit diesen Fragen ist letztenendes ein dritter Verursachungskomplex angesprochen: das Vohandensein respektive Fehlen eines strategischen Zentrums der Parteiführung, auf dessen Unverzichtbarkeit Joachim Raschke schon vor Jahren mit Nachdruck verwiesen hat. Nach der Überwindung bzw. Stilllegung des alten Fundi-/Realo-Streits hat sich zwar ein recht stabiler Burgfrieden der beiden ideologisch differenten Lager gebildet. Aber dessen Leistungen scheinen sich auf Organisationsmanagement und Personalfragen sowie den Umgang mit Ad-hoc-Problemen zu beschränken. Wenn es um längerfristige Grundsatzfragen und Strategiealternativen ging, blieben diese den viel beklatschten Vorsitzenden überlassen, die dann für ihre eigenen Strategiepräferenzen Priorität beanspruchten. Als diese verkündeten, sie würden die Frage einer Kanzlerkandidatur unter sich ausmachen (um damit etwaige weitere Kandidaturen von vornherein auszuschließen?), waren ihnen gleichzeitig das Ob, Wie und Wann der wichtigsten Strategieentscheidung des Jahres überlassen.

Die Alternative, ohne eigene Kanzlerkandidatin bzw.eigenen –kandidaten in den Wahlkampf zu ziehen (vgl. dazu Tagesspiegel 02.11.2020), wurde nicht mehr ernsthaft geprüft. Die Möglichkeit, dass sich die Dinge dann dermaßen zu Ungunsten der Grünen würden entwickeln können, wurde übersehen. Nach dem Vorbild der in den Medien wohletablierten Konkurrenten baute man blind auf die Medien-Attraktivität der Kandidatur eines grünen Newcomers. Doch wieviel vorteilhafter würde heute die Lage der Grünen sein, wenn sich nur Laschet und Scholz streiten müssten, während gleichzeitig das grüne Wahlprogramm und die Möglichkeit eines grünen Wahlsiegs als Elefant im Raum gegenwärtig wären.  So unwahrscheinlich es ist, dass die von den Grünen erlittenen Attraktivitätseinbußen bis zum Wahltag kompensiert werden können, so wahrscheinlich ist es, dass die im vorstellbaren Fall eines rechtzeitigen Kandidaturverzichts grassierenden Spekulationen der grünen Sache, also den Politikzielen der Grünen, eher genützt als geschadet hätten. Sind doch die Grünen nicht mehr wie in früheren Wahlkämpfen mit einer homogenen Medienlandschaft konfrontiert.

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Die ultimative Ergebnisanalyse der Bayernwahl 2018 – entscheidend ist das Gefühl!

Wenn es um die Bewertung von Wahlergebnissen geht, zählt nicht nur das amtliche (allemal vorläufige) Endergebnis, sondern ebenso der von den einzelnen Parteien tiefempfundene, d. h. gefühlte Erfolg oder Misserfolg. Das gefühlte Ergebnis wird stets von Repräsentanten der Parteien verkündet, aber leider immer wieder von Journalisten mit dem amtlichen Zahlenwerk konfrontiert. Das erklärt die oft angespannte Stimmung vor der Kamera und in der Generalsekretärsrunde. Dennoch ist es nicht das amtliche, sondern das gefühlte Ergebnis, welches Zufriedenheitslevel, Machtanspruch und Selbstbetrugsrisiko der Parteioberen bestimmt.

Der erste Blick auf das amtliche Wahlergebnis 2018 gilt dem relativen Zugewinn gegenüber dem Ergebnis von 2013. Klarer Sieger sind hier die Grünen mit +103 % Selbstübertrumpfung. Mit Abstand folgen die FDP (+55 %), die Linkspartei (+52 %) und die Freien Wähler (+29 %).

Doch der zweite Blick ist der entscheidende. Indem die CSU ziemlich genau das von ihr erwartete Ergebnis einfuhr, konnte sich MP Söder mit minus 22 % Wählerstimmenanteil nicht ohne Stolz als Wahlsieger präsentieren. Gewiss habe man das Ziel der absoluten Mehrheit verfehlt, aber allen Grund, mit einem fröhlichen Weiter-So die nächste Regierung zu bilden. Ganz offensichtlich übersteigt das gefühlte Ergebnis recht deutlich die amtlichen 37,2 % und kann ohne Übertreibung auf knapp unter 50 % taxiert werden. Die CSU siegte also mit gefühlten 49,9 %. Glückwunsch!

Ganz anders die SPD. Obwohl es gelang, mit 9,7 % noch in Rufnähe der Zweistelligkeit abzuschließen, zeigten sich die VorsitzendInnen Kohnen und Nahles tief zerknirscht. Ihr gefühlter Misserfolg hat mit 5,1 % gerade noch die Fünfprozenthürde geschafft. Beim nächsten Mal sei man auf einen weiteren Abstieg vorbereitet, so Natascha Kohnen, indem man den wenigen verbliebenen Sympathisanten durch „noch mehr Geschlossenheit“ die Stirn bieten werde. Na dann, alles Gute!

Unbestrittener Wahlgewinner sind die Grünen. In ungewohnter Bescheidenheit verzichtete der neue Vorsitzende Habeck auf das ansonsten fällige Eigenlob und verblüffte mit wohlmeinenden Ratschlägen an die kommende CSU-plus-X-Regierung. Das gründlich durchgeschüttelte Parteiensystem signalisiere den Veränderungswillen der Wählerschaft – eine Auffassung, der sich die CSU-Oberen nicht spontan anschließen mochten. Doch +103 % Zugewinn rechtfertigen locker das gefühlte Ergebnis von 35 %. Weiter so!

Wie alle außer der SPD haben auch die Freien Wähler Grund zur Freude. Ohne viel eigenes Zutun kamen sie im Windschatten des CSU-Abstiegs auf amtliche 11,6 %, was angesichts der Chance auf Regierungsbeteiligung gefühlt glatt dem Doppelten, also 23 % entspricht. Guten Rutsch in die Staatskanzlei!

Die AfD zeigte sich von den amtlichen 10,2 % nicht zu Begeisterungsstürmen hingerissen, da sie von ihrer Performanz in den neuen Ländern besseres gewohnt ist. Um nicht in Traurigkeit zu verfallen – immerhin glauben ihre Wähler, das „Volk“ zu repräsentieren – schlug man einfach den Stimmenanteil der Freien Wähler hinzu und kam somit auf gefühlte 25 %. Ganz schön pfiffig.

Den subjektiv allergrößten Erfolg erzielte die FDP, deren Selbstlobperformanz jener von CSU und Alt-Grünen traditionell überlegen ist. Ihre amtlichen 5,1 % entsprechen ohne Übertreibung rund dem Fünffachen, also gefühlsechten 25 %. Großes Kino!

Bleibt nur noch die Linkspartei zu erwähnen, die ihr Ergebnis von 2013 (2,1 %) aus dem Stand um +52 % auf beachtliche 3,2 % steigern konnte. Das entspricht nicht ganz der vom Vorsitzenden Riexinger vorschnell auf ARD verkündeten Verdoppelung, aber dokumentiert eine parteiinterne Erfolgsbewertung von ebenfalls gefühlt 25 %. Der erste Schritt auf dem Weg zur sozialistischen Volksrepublik Bayern ist geschafft!

Aufmerksame Leser und Leserinnen mögen angesichts dieser Zahlen stutzen, weil sich die gefühlten Prozentsätze zu weitaus mehr als den üblichen 100 % addieren. Sie haben recht: unter Berücksichtigung von 5 %, die auf Sonstige entfallen, beträgt die Summe aller gefühlten Ergebnisse sage und schreibe 173 %. Folglich bedarf es eines weiteren Bewertungsschritts, nämlich der Umrechnung in gefühlsgewichtete Prozentzahlen, die zusammen genommen wieder 100 % ergeben. Erst diese, in einem letzten Schritt errechneten Werte repräsentieren das gefühlsechte politische Gewicht der Parteien, das diese in im Wettbewerb um Macht und Selbstgefühl zum Einsatz zu bringen pflegen. Das Gesamtergebnis lautet deshalb wie folgt (in der Reihenfolge amtlich, gefühlt, gefühlsgewichtet):

CSU 37,2 – 49,9 – 29 %
SPD 9,7 – 5,1 – 3,0 %
Grüne 17,5 – 35 – 20 %
FrWä 11,6 – 23 – 13 %
AfD 10,2 – 25 – 14,5 %
FDP 5,1 – 25 – 14,5 %
Linke 3,2 – 5,0 – 3,0 %
Sonst. 5,5 – 5,0 – 3,0 %
addiert 100 – 173 – 100 %

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Jetzt können die Millionen Moscheen in Deutschland endlich abgerissen werden, gell?

„Der Islam gehört nicht zu Deutschland!“ (Innenminister Horst Seehofer). Aber was soll aus den diversen Symbolen der islamischen Religion werden, die es in Deutschland gibt? Und was genau gehört denn nun eigentlich zu Deutschland, und was nicht?

Klar ist: Lederhosen, Weiß- und Leberwürste, Ausländerhetze, Dummgeschwätz und – gelegentlich – auch ein Pogrom samt Gotteshauszerstörung, das und vieles mehr gehört zu Deutschland. Das sind unsere „landestypischen Traditionen und Gebräuche“ (Seehofer).

Doch ganz so weit, wie es bayerischer Klarsprech suggeriert, sollten wir diesmal besser nicht gehen. Eine solide Mehrheit der Menschen in Deutschland könnte die praktische Umsetzung der Seehoferschen Behauptung richtig übel nehmen.

Wahrscheinlich genügt es fürs christlichsoziale Identitätsbedürfnis schon, wenn an Moscheen (vielleicht auch an Synagogen?) amtlicherseits Schilder angebracht werden mit dem Text:

Bitte, gehen Sie zügig und unauffällig an diesem Gebäude vorüber. Seine Gestalt und Funktion gehören NICHT ZU DEUTSCHLAND.
Ausführliche Angaben zu allem, was zu Deutschland gehört und was nicht, finden Sie auf der Webseite des jeweils amtierenden Bundesheimatministers.                                                                                                                                Die Bundesregierung

 

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Ein neuer Anfang der Grünen? Schon möglich.

Der neue Bundesvorstand der Grünen könnte die Partei tatsächlich wieder zum Impulsgeber im Parteiensystem machen. Robert Habeck und Annalena Baerbock repräsentieren nicht nur deutlich „mehr“ als das längst in den grünen Mainstream aufgelöste Lager der sogenannten Realos. Ihre Wahl an die symbolische Spitze der Partei signalisiert den von vielen erhofften Generationswechsel. Das meint nicht in erster Linie die Ablösung von Älteren durch Jüngere, sondern den willkommenen Einflussgewinn von politischen Erfahrungsträgern, deren Weltbilder weniger durch K-Gruppengeschichten, die Massendemos der 80er Jahre und die Dunkeljahre der Kohl-Ära als durch Freiheitsgewinne dank EU, die Beteiligung der Grünen an Landes- und Bundesregierungen und – nicht zum geringsten Teil – durch eine gewisse Veralltäglichung vieler Diagnosen und Ziele aus der grünen Agenda geprägt sind.

Es scheint durchaus möglich, dass Baerbock und Habeck mehr Erfolg als ihre Vorgänger haben werden, das etwas verblasste Erscheinungsbild der Grünen aufzufrischen – nicht nur mit satterem Grün, sondern auch (entgegen interessierten Diagnosen aus der Linkspartei) mit moderneren Rot-Schattierungen und, wo immer nötig, mit Alarmsignalen in Gelb. Das scheint umso notwendiger, als die bevorstehenden Oppositionsjahre im Bund nicht nur das Risiko der Einigelung in exklusive Selbstgewissheiten mit sich bringen, sondern auch die Chance, einen ungeplanten Wahlkampf zu bestreiten. Die nächste GroKo, wenn sie denn zustande kommen sollte, wird erhebliche Zentrifugalkräfte enthalten.

Wie sehr man auch das Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche bedauern mag, die Grünen sind aus ihnen mit verbesserten Chancen für den öffentlichen Politikdiskurs hervor gegangen. So konnten sie die Scharte von 2013 ausgleichen, als sie – für viele Wähler/innen nicht nachvollziehbar – die Einladung der Union zu Koalitionsverhandlungen ausschlugen. Nach der gescheiterten Jamaika-Sondierung standen sie plötzlich gut wahrnehmbar als die einzige unter den drei Kleinparteien (CSU, FDP, Grüne) da, der es um mehr als um die eigene Wählerklientel und deren gegen die Allgemeinheit gerichtete Sonderinteressen geht.

Diese, von den Grünen stets reklamierte, aber nicht immer überzeugend ausgefüllte Position ist nun als „Kapital“ für die Ingangsetzung einer Modernisierungsdebatte reaktiviert, wie sie Habeck in seiner Vorstellungsrede angedeutet hat: zur Selbstaufklärung der Gesellschaft über die Werte und Institutionen, die den Menschen in Zeiten des stürmischen sozialen und ökonomischen Wandels die Chance auf akzeptable und weitgehend selbstbestimmte Lebensbedingungen für alle bewahren. Dabei handelt es sich gewiss nicht um das Ausmalen von Utopien, sondern auch um die Kalkulation der unvermeidlichen Opfer: wie zum Beispiel die Verabschiedung   mancher lieb gewordenen Ideen und Begriffe aus der Zeit der Frühindustrialisierung. Sollte das gelingen, wäre das der nicht hoch genug zu schätzende Beitrag der Grünen für einen intelligenteren, weil zeitgemäßeren Parteienwettbewerb – zumindest.

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Warum Guttenberg kein Vertrauen verdient

Große Teile der CSU-Wählerschaft sind aus dem Häuschen und feiern einen als Betrüger und Lügner bekannten Mann, den sie unbedingt wieder mit einem politischen Amt bedacht sehen wollen. Der so Geehrte gibt sich mal bescheiden und ohne Ambition. Ein anderes Mal erklärt er seine unrühmliche Vergangenheit als Wissenschaftsbetrüger als hinreichend bereut, gesühnt und erledigt: „Jetzt ist auch mal irgendwann gut.“ Doch das ist beileibe nicht der Fall. Die CSU-Granden, die es bejubeln würden, wenn zu Guttenberg wieder in die Konkurrenzarena der bayerischen oder gar der Bundespolitik eintreten würde, täten gut daran, sich Handlungsweise und Leistungen des Kandidaten noch einmal genau anzusehen.

Die Doktorarbeit

Im Zentrum aller Vorwürfe steht die 2006 an der Universität eingereichte Doktorarbeit. Sie war von Guttenberg als krönender Abschluss seines rechts- und politikwissenschaftlichen Studiums gedacht. Dieser Traum zerplatzte, als im Februar 2011 eine Rezension der Buchfassung in einer juristischen Fachzeitschrift erschien. Ähnlich wie das bescheidene Ergebnis der 1999 abgelegten Ersten Juristischen Staatsprüfung (Note befriedigend“; vgl. Wikipedia) fällt das Qualitätsurteil des Rezensenten aus, das hier etwas ausführlicher zitiert sei.

„Der wissenschaftliche Ertrag der Arbeit ist bescheiden. Das liegt vor allem daran, dass der Autor seinen Verfassungsbegriff nicht hinreichend entfaltet und damit weit hinter der wissenschaftlichen Diskussion zurückbleibt. Zu Guttenbergs Argumentation mäandert vor sich hin und zermürbt die Leser_innen durch seitenlanges Politsprech und die Nacherzählung rechtspolitischer Diskussionen im Konvent. Der Autor macht auch nicht ansatzweise deutlich, worin der aktuelle Erkenntniswert der seitenlangen Dokumentation zu den Gottesbezügen in Verfassungstexten liegt. Das Gesamturteil ‚summa cum laude‘ erscheint darum mehr als schmeichelhaft.“ (Fischer-Lescano 2011).

Erheblich mehr Staub als dieses Urteil über die akademischen Meriten des damals noch amtierenden Verteidigungsministers wirbelten die vom Rezensenten genauestens belegten Fundstellen offensichtlicher Plagiate auf. Zu Guttenberg darf es seiner Prominenz als populärer Politstar, Dressman und Sprücheklopfer  zugute halten, dass seine Dissertation bald darauf von allerlei Plagiatsjägern durchforstet wurde. Das vorläufige – auf der Webseite GuttenPlag Wiki – veröffentlichte Suchergebnis brachte Erstaunliches ans Licht:

  1. Plagiate fanden sich auf 324 der 393 Seiten des Buches, die den Haupttext ausmachen.
  2. Es handelt sich um 891 Textstücke „aus über 120 verschiedenen Quellen“.
  3. Texte im Umfang von rund 72 Seiten sind Komplettplagiate (d.h. unveränderter und ungekennzeichneter  Originaltext anderer Autoren); auf 70 Seiten Text summieren sich verschleierte Plagiate, die „keinesfalls durch vergessene Anführungszeichen entstanden“. (Alle Zitate von der Startseite des GuttenPlag Wiki.)

Die Plagiatsjäger, beauftragte Gutachter und eine Reihe von Fachwissenschaftlern kamen zu dem Schluss, dass die Plagiate nicht „zufällig“ oder aufgrund „schlampiger“ Arbeitsweise entstanden sind, sondern in betrügerischer Absicht, mit anderen Worten „bewusst“. Zu Guttenberg bestritt den Tatvorwurf als „abstrus“ und völlig unzutreffend, musste aber den Entzug des Doktortitels durch die Universität hinnehmen und trat noch 2011 von allen politischen Ämtern zurück.

Die Entschuldigung

Nach eigener Darstellung und der Ansicht seiner CSU-Freunde war dem Autor der verunglückten Doktorarbeit bloß so etwas wie ein „dummer Fehler“ unterlaufen, der jedem passieren könnte, wenn er eben so viel um die Ohren hat und soviel arbeiten muss wie zu Guttenberg in den Jahren 1999 bis 2006. „Es war kein Betrug“ sagt Guttenberg im ZEIT-Interview, vielmehr das unbeabsichtigte Ergebnis seines Lektürestils als „hektischer und unkoordinierter Sammler“:

„Ich habe Dinge abgeschrieben und in den Computer eingegeben; ich habe Kopien gemacht, abgelegt und gesagt, das wird später noch bearbeitet. Oder ich habe es sofort bearbeitet. Später habe ich gewisse Textstellen auch mal aus dem Internet herausgezogen, auch diese abgespeichert, wieder auf unterschiedlichen Datenträgern. Eigentlich war das eine Patchworkarbeit, die sich am Ende auf mindestens 80 Datenträger verteilt hat.“

„Na und?“ würde eine Mehrzahl von Studierenden sagen, die schon mal über einer Diplom‑, Magister- oder Doktorarbeit geschwitzt haben. So ist das eben, wenn man Literatur auswertet und seine Kenntnis vom Stand der Wissenschaftsdisziplin dokumentieren will, in der man sich beweisen will. Da fühlt man sich oft schnell überfordert – und kämpft sich durch oder gibt auf. Guttenbergs Logik zufolge wäre es tatsächlich ein Wunder, dass die große Mehrzahl der laufend begutachteten akademischen Examensarbeiten ohne ähnlich umfangreiche Plagiate über die Bühne geht.

Doch Guttenberg deutet des Rätsels Lösung an. Es sind eben die Guten, die besonders Tüchtigen und Anspruchsvollen, die der Plagiatsvorwurf ereilt. Wenn es einem (wie ihm!) vor allem um die Sache geht (um „Inhalt und Schlüssigkeit meiner Aussagen“) und das Ziel ist, „ein geschlossenes intellektuelles Ganzes“ zu produzieren, dann kann man schon mal vergessen, sich „die wissenschaftliche Kärrnerarbeit an(zu)tun“. Was hieße, sich auch um solche Kleinigkeiten zu kümmern, die eher zu den Aufgaben einer Sekretärin zählten, die natürlich weiß, dass „die fremden Fragmente eben mit Quellenangaben sauber gekennzeichnet werden müssen“. Von Betrug könnte schon deshalb keine Rede sein, „weil es auch nicht ein (kursiv i.O.) Plagiat ist. Ich habe nicht einfach das ganze Buch eines anderen abgeschrieben und zu meinem Buch erklärt.“ (Alle Zitate dieses Absatzes aus dem ZEIT-Interview vom 24.11.2011.)

Kein simpler Fehler

Guttenbergs Argumentation ist zutiefst unglaubwürdig. Wer über mehrere Jahre hinweg Literatur auswertet sowie Textstücke exzerpiert und zu dem Zweck sammelt, ein „intellektuelles Ganzes“ herzustellen, aber dabei darauf verzichtet, die Textstücke mit Quellenvermerken zu versehen – oder aber bei der Verwendung der Textstücke die notierten Quellenvermerke nicht in die Arbeit mit aufnimmt – ist in keinem ernst zu nehmenden Sinne mit der Anfertigung einer wissenschaftlichen Arbeit, sondern mit einem Betrugsunternehmen befasst. Mal einen Quellennachweis auslassen oder Anführungszeichen vergessen, mag jedem passieren. In nahezu allen Fällen würde es beim Kontroll-Lesen bemerkt und korrigiert werden. Bei der Häufung, in der es für Guttenbergs Dissertation dokumentiert ist, versagt die Erklärung als Irrtum oder Flüchtigkeitsfehler. Wenn es sich nicht um schiere Unkenntnis der Spielregeln handelt kann (was nur bei völliger Wissenschaftsferne vorstellbar wäre), ist es nichts anderes als Betrug – und dieser wiederum Beleg einer fatalen Charakterschwäche.

Wer eine solche Arbeitsweise jahrelang praktiziert, ihre Folgen nicht vor Abgabe der Arbeit korrigiert und schließlich eine ehrenwörtliche Erklärung des Inhalts abgibt, dass die Arbeit ohne unerlaubte Hilfsmittel angefertigt wurde, handelt als Betrüger. Er hat nicht nur die Regeln gebrochen, sich mit fremden Federn geschmückt und die Urheberrechte vieler Autoren verletzt, sondern auch ein erschreckendes Maß an Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen gezeigt und ebenso – zumindest dem Anschein nach und durch wiederholtes Leugnen dokumentiert – ein gewisses Maß an krimineller Energie. Das Gerede von einem (sic) Fehler wird der Tatsache der jahrelangen Arbeit an einem Gaunerstück nicht gerecht. Sich einem Betrugsunternehmen dieses Umfangs zu verschreiben, ist nicht dasselbe wie temporäres Versagen, etwa ein Ladendiebstahl mangels Bargeld oder dass es einer unterließ, eine Fundsache im Fundbüro abzugeben. Doch genau das wollen uns Guttenberg und seine CSU-Freunde glauben machen.

Neustart in USA?

Guttenbergs Freunde behaupten, der Makel in seiner Biographie sei durch schieren Zeitablauf getilgt und die Politik müsse nicht länger auf seine Talente verzichten. Zumal der Gefeierte nach seinem Ausscheiden aus der deutschen Politik nicht untätig geblieben sei und sich zu einem Fachmann in Sachen Politikanalyse, Wirtschaftsberatung und Technologie-Innovation gemausert haben soll. Tatsächlich ist es Guttenberg in den USA – nach mehreren Zwischenstationen – gelungen, sich mittels des beträchtlichen Familienvermögens den Anschein einer erfolgreichen Beraterexistenz zu verschaffen. Studiert man die Webpräsentation seiner Firma Spitzberg Partners LLC, so tauchen allerdings Zweifel auf, wie viel reale Unternehmenstätigkeit und wie viel bloßes „window dressing“ dahinter stecken mag. Außer Guttenberg, der als “distinguished statesman” am Think Tank CSIS und gleichzeitig als „Senior Advisor to the European Commission“ wirkt,  gibt es nur einen weiteren Partner: Dr. Ulf Gatzke, der bis 2013 als Leiter des Washingtoner Büros der  Hanns-Seidel-Stiftung tätig war.

Ausweislich der Webseite bestehen Partnerschaften mit vier Einrichtungen mit ähnlich diffusem Angebotsspektrum. Eine, Atlantic Advisory Partners (AAP), ist Spitzberg Partners dadurch verbunden, dass sie den erwähnten Dr. Ulf Gatzke als geschäftsführenden Direktor ausweist. Eine andere, Ming Labs, ein Münchener Büro für Web Design, gibt wiederum Spitzberg Partners als seine New Yorker Dependance an. Des Weiteren sei man mit Global Delaware, einer Unternehmens- und Investmentberatung verpartnert, welche auswärtige Investoren bei der Nutzung des extrem vorteilhaften Unternehmens- und Steuerrechts von Delaware betreut. Schließlich wird noch die Wall Street Blockchain Alliance (WSBA) genannt, die sich der Propagierung und Förderung von Blockchain-Währungen (wie Bitcoin) verschrieben hat.

Die einzigen Tätigkeitsbelege, die sich auf der Spitzberg Webseite finden lassen, sind Videos von Guttenberg-Auftritten (z.B. bei FoxBusiness) und verlinkte Webseiten anderer Internet-Anbieter. Keinerlei Referenzen, keine Mitarbeiter, keine Projekte, nur eine pauschale Selbstanpreisung als international aktiv, innovationsorientiert und über Regierungskontakte verfügend. Übrigens, die selbe Büro-Adresse in Manhattan (270 Lafayette Street, Suite 1005, NY 10012) geben auch zwei weitere Firmen als ihren Standort an. Alles in allem sieht das schwerlich nach einer wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmensgründung aus, sondern eher nach einer um Reputationsaufbau bemühten Selbstinszenierung, die dem „distinguished statesman“ Guttenberg zu Investitionsgelegenheiten und hochkarätigen Einladungen verhelfen soll.

Ein gefährlicher Blender

Welche neuen Kompetenzen er sich während seines Exils in USA angeeignet haben dürfte, verraten Interviews auf Web-Portalen und eine SPIEGEL-Reportage sowie die Selbstdarstellung auf der Webseite. Da ist zuvörderst seine starke Faszination von IT-basierten Start-ups und den fragwürdigen Chancen der Finanzwirtschaft im Falle einer Verbreitung von Blockchain-Währungen. An zweiter Stelle die Kenntnis mancher webgestützten Innovationen und die Fähigkeit zum forcierten Gebrauch des IT Slangs. Seine Reden zu außenpolitischen Themen, vorzugsweise die EU und die Trump-Administration betreffend, offenbaren zwar die Lektüre der amerikanischen Qualitätsmedien, aber keine besondere Analysekompetenz oder  nennenswertes Insiderwissen.

Immerhin scheint Guttenberg hinreichend qualifiziert, um als TV-Talker zu brillieren. Ob das seiner starken Ichzentriertheit, der ausgeprägten Beifallssucht und dem immerwährenden Hang zur Selbstinszenierung genügt, bleibt abzuwarten. Den Verdacht, bei allen seinen Handlungen der Selbstdarstellung und persönlichen Publicity Priorität zu geben, konnte zu Guttenberg nicht entkräften. Die Glaubwürdigkeitslücke in seiner Biographie besteht fort.

Wer immer in Deutschland der Meinung ist, dass ausschließlich integre, verantwortungs­bewusste und ernsthaft an gesellschaftlich relevanten Themen interessierte Personen ein öffentliches Amt bekleiden sollten, wird Guttenberg besser von seiner Longlist streichen. Der selbst noch sechs Jahre nach seinem bislang größten Desaster unveränderte Habitus ungebremster Selbstüberschätzung garantiert, dass man auf weitere Fehlleistungen gefasst sein müsste, würde er in die bundespolitische Arena zurück kehren.

In der FAZ wurde Guttenberg 2011 als trickreicher Gaukler tituliert, der es nicht nur versteht, sein Publikum mit charmanten Posen einzulullen, sondern auch schamlos genug ist, die Thematisierung seiner Verfehlungen mit Drohungen zu kontern. Die damalige Diagnose gilt weiterhin: „Er ist ein wahrhaft gefährlicher Mann“. Böse Zungen behaupten sogar, „KT“ hätte womöglich das Zeug, sich zu einer deutschen Miniversion von Donald Trump zu entwickeln.

 

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Deutschtümler auf dem Vormarsch – die unschönen Aussichten der AfD-Erfolge

Die Reaktionen auf den Wahlerfolg der AfD können nicht überzeugen. Die einen (v.a. AfD und CSU) behaupten, die Wähler hätten gegen unzumutbare Flüchtlingszahlen protestiert. Sie hätten auf die „gefühlte“ Überflutung von Mecklenburg-Vorpommern mit mindestens 500.000 Geflüchteten reagiert, weil scheinbar jeder vierte Einwohner ein Fremder mit anderer Sprache, Religion, Hautfarbe, Barttracht und Verhaltensweisen sei – ein imaginäres Horrorszenario. Tatsächlich leben in MV aber nur etwa 8.000 Flüchtlinge. Wer also dieser krassen Fehlwahrnehmung aufsitzt, würde sich kaum von einer verringerten Flüchtlingszahl beruhigen lassen.

Die andere Seite, namentlich SPD, Linkspartei und Grüne, sehen die Protestwähler von sozialen Ängsten geschüttelt: Sie fühlten sich „abgehängt“, von Hartz 4 und Leiharbeit gebeutelt und durch skandalös niedrige Ostrenten gedemütigt. Die Aufzählung derartiger Missstände ist beliebig verlängerbar und legt sozialpolitische Kompensation nahe. Zweifelhaft ist nur, ob soziale Wohltaten auf Dankbarkeit stoßen würden. Beurteilen doch immerhin rund 80 % der AfD-Wähler ihre Lebenslage als gut oder sehr gut. Die alternative Erklärung, dass man sich besonders um die schlechter gestellten Mitbürger, womöglich gar um Geflüchtete, sorgen würde, ist nicht plausibel.

Angesichts dieser unbestrittenen Befunde ist klar: Etwas weniger Flüchtlinge oder etwas mehr Einkommen würden die Motivlage der Wähler nicht verändern. Entsprechende Politikvorschläge, wie sie die öffentlichen Debatten dominieren, zielen vor allem auf Wähler, die noch nicht zur AfD abgewandert sind; restriktive Flüchtlingspolitik bzw. höhere Sozialausgaben sollen die eigene Klientel bei der Stange halten. Man hofft, die Original-AfD mit einer Prise AfD-light auszubremsen.

Aber was treibt die um, die schon in die Wähler- und Mitgliedschaft der AfD gefunden haben? Da es nicht in erster Linie Flüchtlingszahlen und soziales Leid ist, kommen als mögliche Erklärungen Politikverdrossenheit, Globalisierungsfrust, Zukunftsangst und Statusunsicherheit in Frage. Das sind allerdings eher diffuse Phänomene, die mindestens so sehr zu politischer Enthaltsamkeit wie zum aktiven Handeln motivieren. Es muss noch ein weiterer Faktor beteiligt sein, der wohletablierte „Normalbürger“ umtreibt, den Institutionen und der politischen Kultur des Landes die Zustimmung aufzukündigen.

Einen deutlichen Hinweis gab der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen, als er auf dem Stuttgarter Parteitag vom „links-rot-grün versifften 68er Deutschland“ sprach. Es war eine unmissverständliche Absage an die plurale, liberal-demokratische, weltoffene, Minderheiten respektierende und ihrer Vergangenheit bewusste Gesellschaft, die in Deutschland erst relativ spät, erst vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, entstanden ist.

Dass dieses anti-liberale Gefühlssyndrom etwas stärker in Ost‑ als in Westdeutschland auftritt, verweist auf Besonderheiten im Erfahrungsschatz ehemaliger DDR-Bürger. Nicht anders als die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik hatte die DDR-Gesellschaft Elemente des vormodernen, rassistisch geprägten Nationalchauvinismus bewahrt, der aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stammt und im Nationalsozialismus zur Staatsideologie geworden war. Er drückte sich in Verachtung für nahezu alles Fremde, übersteigertem Nationalstolz und Indifferenz gegenüber fremdem Leid aus. Während die  politische Kultur Westdeutschlands mehrere Phasen moralischer Selbstaufklärung (an den Themen Holocaust, Naziverbrechen, Zwangsarbeit) durchlief, blieb der deutschtümelnde Chauvinismus der DDR-Gesellschaft bis zum Auftreten der oppositionellen Bürgerbewegungen nahezu unwidersprochen.

In der anfangs nur gegen die EU-Integration und Euro gegründeten AfD konnten die anti-liberalen, nationalchauvinistischen Motive aus Ost und West eine politische Heimat finden. Seehofers Diagnose, dass der Aufstieg der AfD vor allem als „Systemkritik“ zu verstehen ist,  scheint korrekt. Es bedeutet, dass sich die radikalen Deutschtümler weder durch Entspannung beim Flüchtlingsthema noch durch sozialpolitische Geschenke nachhaltig zufrieden stellen lassen. Was die Führungspersonen der AfD erklärtermaßen anstreben, ist eine weitgehende Einflussnahme auf die politische Tagesordnung und – im Weiteren – auf die politische Kultur des Landes.

Alle Schritte in Richtung auf eine restriktive Flüchtlingspolitik sowie sozialpolitische Zugeständnisse an die „Bio-Deutschen“ wird die AfD als ihre Erfolge verbuchen. Gleichwohl ist es unwahrscheinlich, dass sie unterbleiben. Denn die Anti-AfD-Surrogat-Politiken entsprechen ja manifesten Forderungen aus allen „demokratischen“ Parteien. Folglich werden sie das Wachstum des anti-liberalen Lagers nicht ausbremsen, sondern es eher beschleunigen. So bleibt als letztes Mittel der Zähmung des ungeliebten, aber einflussreichen Gegners wohl nur das Angebot der Regierungsbeteiligung. Die AfD „in die Verantwortung“ zu nehmen, bedeutet aber nicht nur, einige begrenzte Zugeständnisse zu machen. Es schließt auch die offiziöse Tolerierung ihres speziellen politisch-kulturellen Profils ein.

Doch selbst, wenn die erste Strophe des Deutschlandliedes offiziellen Status erhielte und vielfältige neue Formen von Ausländerdiskriminierung (nach dem Vorbild der „Ausländermaut“) praktiziert würden, wäre eine restlose Befriedung der Deutschtümler unmöglich. Sie würden sich weiterhin durch Globalisierung, Genfer Flüchtlingskonvention, EU-Mitgliedschaft, NATO-Integration und zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen herausgefordert fühlen. Die Ära gesamtgesellschaftlich geteilter Grundwerte wäre am Ende; ein Anschein von Harmonie wäre nur um den Preis liberaler Toleranz des Antiliberalismus möglich.

In diesem worst case-Szenario hätte Deutschland seine beste Zeit hinter sich. Womöglich dürfte man erst dann auf eine Zeit schamvoller Selbstkorrektur der Gesellschaft hoffen, wenn der von den Tümeldeutschen angerichtete Kulturschaden unübersehbar geworden ist.

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EM 2016: mehr Unsicherheit, mehr Profit

Was Fußball so über alle Maßen attraktiv macht, ist bekanntlich die einmalige Melange aus genuiner Unsicherheit, autonomer Aktion und maskuliner Identifikation. Unsicher bleiben Spielverlauf und ‑ergebnis bis zum Abpfiff. Keine noch so clevere Aufstellung und Strategie entscheiden über die tatsächlichen Aktionen der Spieler, die deshalb soviel emotional geladene Aufmerksamkeit genießen. Und kein anderes Kollektiv (und schon gar nicht eine Partei) vermag so stark zum Bekenntnis als Anhänger, Fan oder Ultra zu motivieren wie ein überregional aktiver Ballspielverein. Es würde wohl kaum Proteste auslösen, wenn alle Männer ab 18 ihre Vereinspräferenz im Ausweis dokumentieren müssten (was z.B. Rasterfahndungen wesentlich vereinfachen würde).

Diese EM stellt nun aber alles in den Schatten, was die drei Faktoren bisher bewirkten. Zunächst bleibt unsicher, ob die französischen Gewerkschaften die unbehinderte Austragung bzw. den Besuch aller Spiele zulassen werden. Und wenn ja, kommen die nicht minder machohaft agierenden Terroristen ins Spiel. Welche/s Spiel/e werden sie zu attackieren versuchen? Werden wir ihre Attacken womöglich am Bildschirm live beobachten können – oder bleiben wir auf die redundanten Vermutungen uninformierter Journalisten angewiesen? Das würde den Kitzel der mehrfachen Unsicherheit stark vermindern.

Von Unsicherheit nicht betroffen bleibt mit Sicherheit die „extraktive“ Funktion der Fußballindustrie. Da müsste schon das ganze restliche Turnier vor dem Viertelfinale abgesagt werden, damit der Fluss der Milliarden in die Kassen von Verbänden, Vereinen und AGs ein bisschen ins Stocken gerät. Die Wut der Fans wird die Einkünfte der UEFA-Funktionäre und der vielen spielfähigen Multimillionäre kaum in Mitleidenschaft ziehen. Denn das hochprofitable Extraktionssystem Fußball ist gegen Skandale praktisch immun: Je mehr Skandale, um so mehr Publizität und animierte Zuschauer.

So können wir also den alle Bedeutsamkeiten dieser Welt überstrahlenden Ballspielen der europäischen Jungmillionäre gelassen entgegensehen.

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Das AfD-Grundsatzprogramm – für eine Republik aus dem Geiste der DDR

Der AfD-Parteitag und das in Stuttgart beschlossene Programm werden mit reichlich Kritik bedacht. Dabei gibt das Parteitagsgeschehen (soweit man es auf Phoenix verfolgen konnte) keinen Grund, den demokratischen Charakter der Partei zu bezweifeln. Das Programm scheint im Wesentlichen ein Kollektivprodukt der Mitglieder, kein Oktroi der Führung. In dieser Hinsicht ist die AfD auf der Höhe der Zeit – einer Zeit, in der sich alle Parteien ein gewisses Maß an Organisationsdemokratie  zu eigen gemacht und der unverhohlenen Elitenherrschaft zu Zeiten Adenauers und Kiesingers entsagt haben.

Doch in programmatischer Hinsicht ist die AfD vor allem ein Reiseunternehmen. Denn die Quintessenz aller Kernpunkte ihres Programms heißt „zurück in die 60er Jahre“; zurück in eine politische und gesellschaftliche Kultur, die Ursache jener tiefgreifenden Veränderungen war, die in der simplifizierenden Rückschau mit dem Etikett „68“ belegt sind. Das bezeugen die Ablehnung alles vermeintlich „Fremden“, das nationalkonservative Beharren auf Autarkie und Souveränität, die latente Xenophobie und die manifeste Illiberalität gegenüber ethnischen, religiösen, sexuellen und anderen Minderheiten, das dummdreiste Leugnen des Klimawandels, die Ablehnung von Immigration und transnationaler Mobilität, AKW-Ausstieg und Naturschutz, Gender-Forschung und außerfamilialen Frauenrollen.

Was die AfD will, ist in der Welt, in der wir leben, nicht mehr zu haben. Die Differenzierung der soziokulturellen Bezüge, die Selbstverständlichkeit  individueller Entscheidungsfreiheit, die Relativierung der nationalstaatlichen Autonomie und die Globalisierung von Produktion, Handel, Wissenschaft, Moden, Naturgefahren und Terrorrisiken – sie machen eine solche Reise in die vermeintlich gemütliche Vergangenheit unmöglich. Ganz abgesehen davon, dass sich eine Mehrheit der Menschen einen so weitgehenden Verlust an individuellen und gesellschaftlichen Optionen nicht gefallen lassen würde. Das AfD-Programm wird Traumbild einer verstörten Minderheit bleiben.

Wie es zu einem solch vehementen Rückwärts-Drive in der Gesellschaft kommen konnte, ist eine andere Frage. Ein Ursachenfaktor ist die Veränderung des Parteiensystems, zuerst durch die Grünen, dann durch PDS/Linke und die vom Westen abweichende Wählerschaft im Osten. Ob Angela Merkel eine – im Hinblick auf Machtgewinnung bessere – Alternative zu ihrem Kurs der Sozialdemokratisierung gehabt hat, mag dahin gestellt bleiben. Tatsache ist jedenfalls, dass Helmut Kohl und seine Mannen es besser verstanden, nationalkonservativ bis dezidiert reaktionär gesinnte Wähler mit einem (sehr) moderaten Modernisierungskurs zu versöhnen. Merkels Projekt der Austrocknung des sozialdemokratischen Wählerreservoirs machte diese Wähler führungslos, überließ sie dem eigenen volatilen Missmut – und machte sie für das Parteiprojekt der Euro-Kritiker um Bernd Lucke verfügbar.

Ursachenfaktor Nummer zwei findet man allem Anschein nach in dem zur EU-Krise ausgewachsenen Euro-Debakel. Es sind nicht nur die objektiven Missstände in der Regulation der gemeinsamen Währung, der vermeintlich allein von Griechenland verursachten milliardenschweren Bankenrettung, und schließlich der Zusammenbruch EU-interner Kooperation bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Erst vor dem Hintergrund des überlauten Europa-Gedöns, an dem buchstäblich alle demokratischen Parteien – von der CSU bis zu den Grünen und den Linken – Anteil hatten, kam es zur schockhaften Frustration, dass „mehr Europa“ zumindest temporär auch mehr Probleme und weniger Lösungen bedeutet. Die viel beschworene „europäische Idee“ entpuppte sich als ferne Utopie eines kleinen, überwiegend in Deutschland beheimateten Politikerklubs.

Der dritte Ursachenfaktor für die überraschende Stärke der rückwärts gewendeten Bewegung ist dem SED-Regime und seiner dumpf-nationalistischen Gesellschaftspolitik anzulasten. Die (seit dem Mauerbau 1961) buchstäblich eingesperrten DDR-Bürger waren nicht nur an eigenen Erfahrungen mit anderen Kulturen, Entwicklungen und dem Optionenspektrum offener Gesellschaften gehindert, sondern wurden zusätzlich mit dezidiert nationalchauvinistischen Parolen und verlogenem staatlichen Selbstlob berieselt. Auf diesem Nährboden überlebten nicht nur Sprachbilder und Denkweisen des Nazi-Rassismus, sondern es entstand ein hohes Niveau an Deutschtümelei samt dem Spiegelbild weithin geteilter Xenophobie. Davon wussten u.a. Afrikaner und Polen zu berichten. Wie wenig der proklamierte Internationalismus tatsächlich das Denken bestimmt, enthüllte kürzlich die Linken-Fraktionsvorsitzende Wagenknecht, als sie in Reaktion auf die eingewanderten Flüchtlinge eine Besserstellung deutscher Sozialhilfe- und Rentenempfänger forderte.

Langer Rede kurzer Sinn: Die Faktoren, die den Aufstieg der AfD begünstig(t)en, scheinen von ähnlicher Stärke und Dauerhaftigkeit wie jene, von denen die Grünen profitier(t)en. Deshalb besteht wenig Aussicht, dass die neue Partei sobald wieder das Parteiensystem verlassen wird. Ob die verbreitete Neigung zur Isolierung der AfD, wenn nicht gar zur Kommunikationsverweigerung, die langfristig beste Option ist, darf bezweifelt werden. Nüchtern betrachtet, wäre es vorteilhafter, würde sich die Partei dem Realitätsschub einer Regierungsbeteiligung unterziehen, solange sie noch einer exklusiven Ideologie ermangelt und von interner Pluralität und demokratischen Ambitionen geprägt zu sein scheint. So ist den anderen Parteien etwas mehr Mut zur Interaktion mit den „Fremden“ im Parteienspektrum zu wünschen.

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